Schwankende Kanarien
Einst waren Kanarienvögel Lebensretter. Denn in den Tiefen der Minen nutzten Bergarbeiter das Verstummen der bunten, ständig zwitschernden Tiere als Warnsignal für den Abfall des Sauerstoffgehalts. Schwiegen die Vögel, galt es, die Minen schnellstens zu verlassen.
Das Bild des Kanarienvogels dient der Autorin Judith Schalansky als Wegweiser durch das Dickicht des Alarm- und Ausnahmezustands, in dem Wächtertiere die Rolle von lebensrettenden Orakeln übernehmen und Bücher buchstäblich Leben retten können. Welche konkreten und metaphorischen Frühwarnsysteme hat der Mensch? Werden sie dem immer dringlicher werdenden ökologischen Krisenzustand gerecht? Welche Erzählmuster und Dramaturgien stehen uns zur Verfügung, um unmittelbares Handeln anzumahnen? Und welche neuen Mythen und Metaphern benötigen wir, um der Erzählung vom Weltende etwas entgegenzusetzen?
Im MalerSaalFoyer, der sogenannten »Galerie der ausgestorbenen Tierarten«, liest Ensemblemitglied Josefine Israel diesen engagierten wie poetischen Essay. Dabei entpuppt sich der sprichwörtlich gewordene „canary in the coal mine“ als Kippbild, mit dem sich immer neue Erkenntnisse und Beobachtungen zu Tage fördern lassen – von der Geschichte des Bergbaus bis zur Entstehung der Umweltbewegung.
Für ihren Essay, in dem sich Haltung, Wissen und Einfühlung eindrücklich verbinden, erhielt Judith Schalansky den WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis 2023.