Geschichten aus dem Wiener Wald
Marianne sucht nach einer Rolle für sich in ihrem Leben. Wie andere Frauenfiguren Horváths lebt sie in scheußlichen Abhängigkeiten. „Papa sagt immer, die finanzielle Unabhängigkeit der Frau vom Mann ist der letzte Schritt zum Bolschewismus.“ Aber Marianne kämpft gegen ihre arrangierte Verlobung und versucht zu tun, was ihrem Gefühl entspricht, sich aus dem Konstrukt zu befreien, das ihr Vater, genannt der „Zauberkönig“, und ihr Bräutigam Oskar, ein Metzger, aufgerichtet haben. „Jetzt bricht der Sklave seine Fessel“, darf Marianne von sich selbst sagen, für einen Moment. Lange vor 1968 und #MeToo fällt 1929 der Satz: „Mein Körper gehört mir“. Zu Recht gilt das Stück als Schlüsselwerk des modernen Dramas.
„Demaskierung“ ist Programm bei Horváth. Und vor dem Hintergrund der größten Wirtschaftskrise der Geschichte entlarven sich die volkstümlichen Klischees in den Köpfen geradezu von selbst und treten in ihrem Gegensatz zum Leben und zum Überlebenskampf brutal hervor. Schnell wird die Wiener Gemütlichkeit unheimlich ungemütlich. Durch die poetisch-chirurgische Präparation sprachlicher Verrohung zeigt Horváth präzise den Bewusstseinsstatus seiner Menschen, der Typus tritt hervor, die „Unperson“. Konsequent verpackt die Regisseurin Heike M. Goetze ihre Spieler*innen ganz in Stoff. Die Text-RNA ist stärker als alle Persönlichkeit.