Hamlet
aus dem Englischen von Heiner Müller, Mitarbeit Matthias Langhoff

Just the worst time of the year for a revolution. Europa 1601, zwei Jahre vor dem Tod Königin Elisabeths, häufen sich die Anzeichen des nahen Endes einer glücklichen Epoche. Shakespeares Gönner, ein Liebhaber der Königin, wird hingerichtet, sein Vater stirbt, ebenso sein Sohn, der Hamnet hieß. Ein Einschnitt, William Shakespeare schreibt »Hamlet«.
Mit »Hamlet« stößt Shakespeare in eine neue Dimension vor, jenseits aller bis dahin bekannten Genres. Kein Stück hat so viele widersprüchliche Deutungen provoziert wie dieses – Interpretationen fallen beim Lesen des Textes schnell in sich zusammen. Der französische Analytiker Jacques Lacan sieht die Ursache dafür in einer besonderen Art „Unwissenheit“, in die der Autor die Figuren und das Publikum versetzt. Eine Ungewissheit, die nichts mit Entscheidungsschwäche oder Zögerlichkeit zu tun hat, sondern eine radikale, unentrinnbare Unentscheidbarkeit der entscheidenden Dinge. Für den Psychoanalytiker ist klar: Das ist die Macht des Unbewussten.
Mit „Wer da?“ beginnt der Text, der „Geist“ des toten Vaters tritt auf, der auch Hamlet heißt. Hamlet ist immer schon „Hamlet, Son of Hamlet“. Wer spricht? Steckt Wahrheit im Bericht des Geistes? Die dunklen Flecken im Leben des Vaters bleiben dunkel, die Verworfenheit des aktuellen Königs ist offensichtlich. Ein Rachedrama bahnt sich an, aber wozu Rache? Stattdessen seltsame Grausamkeit gegen Ophelia… Und am Schluss dann doch ein Massaker, das nur der überlebt, der die Geschichte aufschreibt.
Geschichte ist die Geschichte der Sieger. Ist eine andere Position einzunehmen möglich? Wo ist Wahrheit gespeichert, wenn es keinen „Geist“ gibt? Das ist das letzte große Thema Shakespeares, das Heiner Müller in seiner »Hamletmaschine« aufgreift, ins 20. Jahrhundert fortschreibt und kommentiert. Ein grandioser Text, der neben allem Verheerenden festhält: „Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber.“ Auch wenn aus der „Unwissenheit“ ein „Keiner-weiß-mehr“ geworden ist