Kindeswohl
Über die Rechte von Kindern und Jugendlichen wird derzeit viel gestritten. Die gegen die Corona-Pandemie eingesetzten politischen und gesellschaftlichen Bewältigungsstrategien verlangen der jungen und jüngsten Generation das größte Opfer ab. Nicht selten wird in öffentlichen Debatten das Kindeswohl als der am meisten durch die Krise geschädigte Grundwert unserer Zivilgesellschaft markiert. Vor kurzem lag sogar ein Entwurf der Bundesregierung vor, der Kinderrechte künftig auch im Grundgesetz verankern wollte.
Der Titel von Ian McEwans Roman könnte aktueller nicht sein. Auch die Familienrichterin Fiona Maye am Londoner High Court wird regelmäßig mit Rechtsstreitigkeiten konfrontiert, in denen sie über die widersprüchlichen Interessen von Erwachsenen und ihren Kindern befinden muss. Hier hat sich der Schutzauftrag des Rechtsstaates zu beweisen. Umsichtige Urteile sind zu fällen trotz unterschiedlicher Wertevorstellungen und Freiheitsbegriffe, variabler Auffassungen von menschlichem Wohlbefinden und Glück, trotz einer augenscheinlichen Kluft zwischen Kulturen, Identitäten, Gefühlslagen, Lebensentwürfen, Familienbeziehungen, fundamentalen Grundsätzen, Religionen und Meinungen. Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere und dem Tiefpunkt ihrer Ehe erreicht Fiona Maye ein richterlicher Eilantrag: Sie soll über Leben und Tod entscheiden. Wird dem siebzehnjährigen Adam keine Bluttransfusion verabreicht, wird er innerhalb weniger Tage an Leukämie sterben. Doch als strenggläubige Zeugen Jehovas lehnen seine Eltern und er diese lebensrettende Maßnahme strikt ab. Ihre Religion verbietet ihnen, das Leben über den Glauben zu stellen. Fiona beschließt kurzerhand, den jungen Adam persönlich in der Klinik aufzusuchen, und verlässt den üblichen Weg ihrer Professionalität – ein schwerwiegender Schritt, der fatale Folgen nach sich ziehen soll.